November 2015

Auswanderer aus dem Ostertal

Veranstaltung am 01.11.2015

Hoof. Es war wohl das Thema, das Bezüge zur aktuellen Flüchtlingssituation erwarten ließ, das die vielen Zuhörer angezogen hatte. Jedenfalls war der Saal des protestantischen Gemeindehauses Hoof bis auf den letzten Platz besetzt, als der Vorsitzende des Heimat- und Kulturvereins Ostertal, Hans Kirsch, ins Thema „Auswandererschicksale aus dem Ostertal“ einführte. Es gehe um Auswanderungen in den vergangenen drei Jahrhunderten, ihm selbst sei bei den Forschungen kein Fall von politischer oder religiöser Verfolgung untergekommen. Vielmehr sei fast immer der Wunsch ausschlaggebend gewesen, der Not im eigenen Land zu entkommen, in einem anderen Land ein besseres Leben führen zu können. Nachdem Klaus Zimmer in einem allgemeinen Überblick über Zeiten, Zahlen, Ziele und Wege der Auswanderungen aus dem Ostertal gegeben hatte, berichtete Walter Harth über den frühesten Auswanderer, Hans Adam Klein aus Bubach. Der zog bereits mit der ersten pfälzischen „Welle“ 1709 nach Pennsylvanien in Nordamerika und führte später von dort aus einen jahrelangen Zivilprozess mit seiner Ostertaler Verwandtschaft wegen seines Erbes. Hans Kirsch berichtete über mehrere Ostertaler Familien, die 1724 nach Südungarn zogen und dort ein Dorf namens Moragy gründeten, in dem bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges ausschließlich Deutschstämmige lebten. Nach dem Krieg wurden alle Deutschen aus Ungarn ausgewiesen und flüchteten nach (West-) Deutschland. Einer der Ausgewiesenen beschrieb später das Zusammenleben in dem ungarischen Dorf: „Alle von Amts- und Würdenträgern inszenierte Versuche, das feste Band zu lockern, die deutsche Sprache, die Lieder, ihre deutsche Eigenart zu stören, wurden mit einer Allzweckwaffe, dem gewaltlosen Widerstand, abgewehrt. Sie nahmen einfach nichts an, was nicht von ihrer Art war, schon gar nicht, wenn man es ihnen aufzwingen wollte.“ An dieser Stelle gab es Heiterkeit und Fragen nach Integration und Parallelgesellschaften, was heute doch so strikt gefordert werde.

Marianne Kirsch erfuhr 1999, dass schon seit 1784 Verwandte ihrer Familie (damals Nickel Nau aus Selchenbach) in der Batschka, heute Serbien, lebten. Nachfahren standen plötzlich auf dem Selchenbacher Friedhof. Gernot Spengler besuchte vor einigen Jahren die Nachfahren des 1847 aus Saal ausgewanderten Daniel Seyler in den USA und berichtete davon. Und zum Abschluss schilderte Hans Kirsch das Leben von Helmut Berg aus Niederkirchen, der 1929 nach Chicago auswanderte, aber nicht aus purer Not, sondern weil er wissen wollte, ob es tatsächlich so sei, dass man in Amerika mit Mut und Arbeit alles erreichen könne. Tatsächlich wurde er in den 1960-er Jahren zum Besitzer einer Bäckereikette, starb aber relativ früh.

Stefan Wailersbacher illustrierte die Vorträge mit Bildern, und Walter Harth spielte dazwischen mit dem Akkordeon Auswandererlieder. In seinem Schlusswort ging Hans Kirsch auch auf die derzeitige Flüchtlingssituation ein und sprach die weitverbreiteten Zweifel an, „ob wir das schaffen“. Dabei sagte er: „Ja, wir schaffen es, weil wir unsere Zweifel zulassen, ohne in Panik zu verfallen, ohne dass wir Zäune bauen und Notleidende mit der Waffe in der Hand abwehren. Wir diskutieren, was wünschenswert und was machbar ist, wir ringen um Konzepte. Wichtig ist, dass wir zu unseren Zweifeln stehen, aber sie durch Anpacken und Hilfe auch überwinden.“

 

Schlusswort Auswanderer-Veranstaltung des HKVO am 1.11.2015 in Hoof durch Hans Kirsch:

Heute kommen viele, sehr viele Zuwanderer nach Europa, nach Deutschland. Den meisten von ihnen scheint ein Leben in ihrer alten Heimat nicht mehr möglich zu sein; auch sie hoffen auf ein besseres Leben, auf Sicherheit, auf ein wenig Glück. Dafür sind sie dem Krieg oder dem Hunger entflohen, haben Zäune überwunden oder das Meer. Die meisten kommen mit schlimmen Erfahrungen, kennen nicht die Sprache ihres Ziellandes und nicht die hiesigen Gepflogenheiten.

Gewiss, auch im Sehnsuchtsland Deutschland ist nicht alles Gold, was glänzt. Wir, die wir hier leben, wissen das. Es gibt Hetze, Parolen, Brandanschläge und Hass. Es gibt aber auch - und die sind in der Mehrheit - Menschen, die helfen und spenden, die aufnehmen und willkommen heißen.

Und es gibt natürlich auch viele, die angesichts des großen Ansturms zweifeln, die sich fragen, ob das Ganze in so kurzer Zeit zu organisieren und zu bewältigen ist. Deshalb sind viele Menschen verunsichert und zögerlich. Gerade sie brauchen Antworten – denn dieses Fragen ist legitim, ja es ist notwendig in einer Demokratie, in der Entscheidungen ausgehandelt werden müssen und nicht einfach von oben diktiert werden können. Nur wer die Risiken abzuschätzen vermag, kann Beschlüsse fassen, die tragfähig sind. Zumal, wenn sie so weitreichend sind, dass sie das innere Gefüge eines Landes zu verändern in der Lage sind.

Ich gebe zu: auch ich habe ein unbestimmtes, mulmiges Gefühl angesichts der Vielen, die sich an uns wenden und um unsere Hilfe bitten. Auch ich habe Fragen, die bisher nicht ausreichend beantwortet sind, vielleicht noch nicht sein können. Wie viele werden noch kommen, wann ebbt der Strom ab, wie viele werden wieder gehen, und wann wird das sein. Auch ich mache mir Gedanken über Veränderungen in den Schulen, in den Kitas, über die Kosten – schaffen wir das?

Und dann sage ich mir: Ja, wir schaffen das! Eben weil wir unsere Zweifel zulassen, ohne in Panik zu verfallen, ohne dass wir Zäune bauen und Notleidende mit der Waffe in der Hand abwehren, wie manch andere Länder das zur Zeit tun. Wir schaffen es, indem wir leidenschaftlich diskutieren, was machbar ist, was wünschenswert und was akzeptabel ist. Um die besten Konzepte müssen wir ringen, auch mal mit harten Bandagen.

Und wenn wir das durchhalten, dann können wir stolz sein auf uns und auf unser Land. Auf ein Land, das streitet und mit sich ringt; das aber nicht abweist und abschottet. Wie wir diesen Konflikt derzeit anpacken – nämlich überwiegend sachlich und konstruktiv, wenn auch mit Ausnahmen – das finde ich gut und darauf können wir auch stolz sein. Viele Mitbürger fragen, zweifeln, diskutieren. Die Allermeisten aber wollen helfen: helfen, dass tragbare Lösungen gefunden werden. Das Land streitet, aber es hilft. Wichtig ist: dass wir zu unseren Zweifeln stehen, aber sie durch Anpacken auch überwinden. Dann schaffen wir es auf jeden Fall.